Gedicht Mit dem Schnee kamen die Tränen
von Annegret Kronenberg
Mit dem Schnee kamen die
Tränen
Erzählung
Es war Anfang Dezember 1944, der letzte Kriegswinter.
Vor Kälte schlotternd, mit rotgefrorenen Wangen, stürmte ich ins Haus, um mich
ein wenig aufzuwärmen. Als ich händereibend die sonst so heimelige Wohnküche
betrat, schlug mir eine ungewohnte Kälte entgegen. Etwas Bedrückendes lag in
der Luft.
Statt meiner Mutter stand eine Nachbarin am Küchenherd
und machte sich dort zu schaffen. Meine Mama, die hochschwanger war, saß mit ihrem
unförmigen Leib am Küchentisch und hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt.
Beide Frauen schnupften und weinten in ihre Taschentücher. Erschreckt lief ich
zu meiner Mutter und fragte sie: »Mama, warum weinst du?« Sie brachte kein Wort
heraus, nahm mich nur schweigend in ihre Arme und drückte mich fest an sich.
Ich spürte, wie ihr Leib von ihrem heftigen Schluchzen erschüttert wurde und
ihre heißen Tränen meine kleinen, verfrorenen Hände netzten. Ungeduldig bohrte
ich weiter: »Sag' doch, Mami, was ist geschehen?« Da nahm mich die Nachbarin
zur Seite und erklärte mir, es sei ein Päckchen mit einem Brief angekommen, in
dem uns mitgeteilt wurde, dass mein Vater in Polen gefallen sei und sie deshalb
so traurig wären. Diese Worte trafen mich wie Peitschenhiebe.
Dass Soldaten im Krieg fielen, war etwas, das man
jeden Tag zu hören bekam. Ich hatte mir nie viel Gedanken darüber gemacht.
Jetzt wurde mir zum ersten Mal bewusst, was das bedeutete. Mein geliebter Vater
war tot, in Polen gefallen. Mit Polen brachte ich sofort Kälte, Schnee und
Grausamkeiten in Verbindung. Irgendwann hatten Flüchtlinge, die einmal kurz bei
uns untergebracht waren, davon erzählt. Aber "gefallen", das hieß
doch, mein Papa würde nie wieder zu uns zurückkehren. Mein Papa, der Fremde.
Gerade in seinem letzten Fronturlaub hatte ich ihn liebgewonnen, hatte
begriffen, was Papa hieß.
Vor seiner letzten Abreise hatte er auf dem Bahnsteig
meiner Mutter die bange Frage gestellt: »Was meinst du, werde ich
zurückkommen?« Und Mutter hatte ganz spontan erwidert: »Natürlich kehrst du zu
uns zurück!« Wieso konnte dann so etwas Furchtbares geschehen? Es konnte doch
nicht auf einmal alles vorbei sein. Und mein langersehntes Geschwisterchen, er
würde es gar nicht sehen können. In meinem kleinen Kopf schwirrten die Gedanken
wie aufgescheuchte Vögel durcheinander.
Dann fiel mein Blick auf das offene Päckchen auf dem
Küchentisch. Ein Feldpostpäckchen, wie ich es schon häufig gesehen hatte.
Obenauf lag aufgeschlagen Vaters Brieftasche. Ich sah darin ein Foto von meiner
Mutter und mir. Es war, wie die Brieftasche, durchschossen und total mit
angetrocknetem Blut verschmiert. Ich wagte nicht, es anzurühren. Mir war ganz
übel, ich fühlte mich elend und allein. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Wie betäubt stellte ich mich ans Fenster und starrte in den weißen Schnee, in
dem ich gerade noch so fröhlich getobt hatte.
Wie schön hatte der Tag doch begonnen! Schon in der
Nacht hatte es zu schneien angefangen, und am Morgen fielen immer noch dicke
Flocken vom Himmel. »Es schneit, es schneit!« hatte ich ausgelassen durch das
Haus gejubelt und vor Freude in die Hände geklatscht. Im Nu hatte ich mich warm
eingemummelt und mich mit meinem Dackel in die weiße Pracht gestürzt. Der Hund
hatte sich erst an die veränderte Landschaft gewöhnen müssen. Mit seiner langen
Schnauze hatte er sich wie besessen durch die weiße Masse gepflügt.
Aus der Scheune hatte ich unter altem Gerümpel meinen
Schlitten hervorgeholt. Er stammte noch aus Vaters Kindertagen. Mit
Schmirgelpapier hatte ich die verrosteten Kufen ein wenig blankgerieben und
Heidewitzka! Auf ging's! Inzwischen hatten sich meine Freundinnen aus der
Nachbarschaft eingefunden, und wir vergnügten uns in dem Schneegestöber. Es war
ein besonders ruhiger Vormittag gewesen, ohne Fliegeralarm und beängstigenden
Flugzeuggeräuschen in der Luft.
Natürlich hatten wir auch einen großen Schneemann
gebaut. Um ihn mit Augen, Mund und einer Knopfleiste auf dem Bauch
auszustatten, hatten wir ein paar Kohlen stibitzt, die damals Mangelware waren.
Als Nase hatte eine lange, rote Rübe gedient. Dann fehlten ihm nur noch Hut und
Schal. Durch die Hintertür hatte ich mich ins Haus geschlichen und heimlich aus
Vaters Kleiderschrank diese Utensilien besorgt. Ein Reiserbesen wurde ihm noch
in den Arm gelegt, und wir besaßen den schönsten Schneemann, den man sich nur
vorstellen konnte. Vergnügt und übermütig waren wir um ihn herumgetanzt, wie um
ein goldenes Kalb.
Da stand er nun, der schöne Schneemann. In meiner
kindlichen Phantasie sah ich plötzlich neben ihm meinen Vater regungslos in
einer riesigen Blutlache liegen. Mein großer, starker Vater, ganz hilflos und
ganz allein. Das Gesicht des Schneemannes verformte sich plötzlich zu einer
hämisch grinsenden Fratze. In diesem Moment verwandelte er sich für mich zum Mörder
meines Vaters. Mir graute vor ihm und dem Schnee. Ein Schaudern zuckte durch
meinen Körper, und ich begann fürchterlich zu frieren. Unterdessen waren im
Haus die nächsten Verwandten eingetroffen, die man zwischenzeitlich
benachrichtigt hatte. Dazu gehörte auch mein Großvater väterlicherseits. Er war
ein stattlicher Mann mit eisernen Prinzipien. Auf mich wirkte er stets unnahbar
und konnte mir nie ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln.
Für meinen Großvater war mit dem Tod meines Vaters
eine Welt zusammengebrochen. Sein Lebenstraum war zerplatzt wie eine
Seifenblase. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er laut jammernd und in
sich zusammengesunken durch die Wohnstube hastete und mit seiner kräftigen
Stimme immer wieder die Worte hervorstieß: »Das überlebe ich nicht!« Die
Bedeutung dieser Worte ist mir damals nicht bewusst geworden, aber sein lautes
Geschrei und seine Unbeherrschtheit, die ich nie von ihm erwartet hätte,
erschreckten mich und machten mir Angst.
Mit meinem Hund verkroch ich mich, wie ein
verängstigtes Reh, in eine stille Zimmerecke und versuchte, mit meinem Schmerz
fertig zu werden. Ich kuschelte mich an das Tier und weinte meine bitteren
Tränen in sein weiches Fell. Er spürte meine Traurigkeit und gab mir das
Gefühl, verstanden zu werden.
Seit diesem schrecklichen Tag bekam ich immer eine
Gänsehaut, wenn der erste Schnee fiel. Ich glaube sogar, dass ich noch heute im
Schnee stärker friere als andere Menschen.
Annegret Kronenberg
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